Naudet: Was wußten sie wirklich?

Von Gerhard Wisnewski

Der Film der Gebrüder Naudet „11. September – Die letzten Stunden im World Trade Center“ ist eine eigene Betrachtung wert. Seine Bedeutung für den offiziellen Mythos ist beträchtlich. Nicht nur saßen 40 Millionen Amerikaner vor dem Bildschirm, als der Film am 10. März 2002 ausgestrahlt wurde. Danach ging der Streifen auf Welttournee. In Deutschland war das Werk dazu ausersehen, die Kunde vom ahnungslosen Amerika und seinen tapferen Helden am ersten Jahrestag der Anschläge, dem 11. September 2002, unter das Volk zu bringen – „unendlich bedrückend“ in seiner Wirkung, wie man bei der ARD feststellte. Und rein emotional, darf man hinzufügen. Die Geschehnisse und die Aktionen der Feuerwehrleute werden quasi mit den Augen des Kindes betrachtet und rein emotional aufgearbeitet. Eine rationale und analytische Aufarbeitung findet nicht statt. Die Helme, die Gesichtszüge, die ratlosen Minen der Feuerwehrmänner – all das wird endlos wiederholt, auf daß es sich für immer in die Gehirne einbrenne.

Das Werk des Filmemachers Jules Naudet und seines Bruders Gedéon Naudet wird eine wichtige Rolle bei der Heldenproduktion spielen. Unterziehen wir es deshalb einer kleinen Analyse.

Jules Naudet beobachtet mit seiner Kamera ein paar Feuerwehrleute, die an einer Art Gulli oder Gitter herumstehen. Einer hantiert mit einer Gassonde. Doch die Meldung vom ausströmenden Gas erweist sich als falscher Alarm. Die Sonde zeigt nichts an. Dafür hören die Feuerwehrleute plötzlich ein lautes Pfeifen über ihren Köpfen und schauen nach oben. Die Kamera folgt ihrem Blick nicht, sondern schwenkt stattdessen um etwa 90 Grad nach links hinten. Im blauen Himmel über New York erfaßt sie einen Airliner, der Sekundenbruchteile später in den Nordturm des World Trade Centers einschlägt. (Naudet, Gedéon und Jules: „11. September – Die letzten Stunden im World Trade Center“, Erstsendung in Deutschland am 11. September 2002, 20.15 Uhr, ARD)

So schrecklich dieses Ereignis auch ist – für den Filmemacher und seinen filmenden Bruder Gedeon Naudet bedeutet es eine Sternstunde. Kaum jemand kennt sie, jahrelang haben sie eher erfolglos vor sich hingekrebst, ihre Filme liefen gerade mal auf Underground-Festivals, finanzieren mußten sie sie mit allerlei Nebenjobs. Und nun das: der Volltreffer, der Goldene Schuß. Jules Naudets Aufnahme vom Einschlag der ersten Maschine in das World Trade Center ging um die Welt, die Dokumentation der beiden Brüder über die Helden der New Yorker Feuerwehr und den Zusammenbruch der Türme wurde von Fernsehstationen rund um den Globus ausgestrahlt. Mit einem Schlag war es mit der Anonymität vorbei, und – so darf man wohl annehmen – auch mit den Nebenjobs. Mitten in der Katastrophe gebiert New York wieder jenen amerikanischen Traum, den man im allgemeinen mit der Überschrift ?“Vom Tellerw?scher zum Millionär“ versieht.

 

Szene aus Naudet-Film:
Ausschließlich emotionale
Aufarbeitung des 11.9.

Werfen wir einen Blick auf die Geschichte dieses unwahrscheinlichen Zufalls. „Seltsam war das schon“, sagt James Hanlon, Feuerwehrmann in der Feuerwache an der Duane Street und ein Freund der beiden. „Der Film kam eher zufällig zustande. Jules und Gedéon wollten ja keine Dokumentation über den 11. September drehen, sondern über einen Feuerwehrmann. So fing die ganze Sache wenigstens an.?

Merkwürdig daran ist, daß das Thema Feuerwehr in der Medien-Branche ziemlich abgedroschen ist. Es gibt wohl kaum ein weniger originelles Thema. Normalerweise wird ein solches Thema eher auf der Journalisten- oder Film-Hochschule produziert. Schon zuviele sensationslüsterne Kamerateams brausten mit Feuerwehrautos, Notarzt- und Polizeiwagen durch die Straßenschluchten dieser Erde, um den aufregenden Alltag der Retter zu filmen, um damit jetzt noch eine Katze hinter dem Ofen vorlocken zu können. Normalerweise wird man dafür also nicht so leicht einen Auftraggeber finden, und tatsächlich berichten Jules und Gedéon Naudet, daß sie bei einem Sender nach dem anderen mit ihrer Idee abblitzten. Nachdem sie auf diese Weise die miserablen Marktchancen ihres Filmes vor Augen geführt bekamen, bliesen sie das Projekt nicht etwa ab, sondern verfolgten es auf eigene Gefahr weiter. Ein solches Verhalten kennt man bei Filmemachern nur dann, wenn sie ein ganz außergewöhnliches und neues Projekt verfolgen, von dem sie – dem Kopfschütteln der Umwelt zum Trotz – felsenfest überzeugt sind. Nur wenn die Leidenschaft sehr heiß brennt, wird man sich auf ein derartiges finanzielles Abenteuer einlassen. Das ursprüngliche Thema, einen Neuling bei der New Yorker Feuerwehr beobachten zu wollen, will dazu aber gar nicht passen. Es gehört nicht zu jenen Themen, für die ein Journalist Kopf und Kragen oder zumindest einen Berg Schulden riskieren würde.

Aber von diesen allgemeinen Erwägungen abgesehen, kann es natürlich im Einzelfall besondere Umstände geben, die den Aufwand trotzdem rechtfertigen – Umstände etwa, die in der Person der handelnden Figuren zu suchen sind, in diesem Fall des jungen Feurwehrneulings. Vielleicht bringt er etwas mit, das den Fernsehzuschauer später an den Bildschirm fesseln wird – persönliche Lebensumstände etwa, einen besonderen Lebensweg oder eine besondere Ausstrahlung, kurz: irgendetwas, das aus einem an sich gewöhnlichen Thema plötzlich wieder etwas Besonderes macht.

Gespannt wartet man deshalb auf den Auftritt der Hauptperson, des jungen Feuerwehrnovizen Tony Benetatos. Die Gebrüder Naudet haben ihn vor dem 11.9. auf der Feuerwehr- Akademie gefilmt, aber der Mann ist eine einzige Enttäuschung. Er wirkt schüchtern und farblos, läßt jede Tiefe und jeden Abgrund vermissen. Für ein Porträt erfährt man erstaunlich wenig über ihn. Es heißt, die Gebrüder Naudet wollten zeigen, wie aus ihm ein Mann wird. Aber dafür müßte man etwas über das Vorleben des Feuerwehrmanns wissen, warum er beispielsweise noch kein Mann ist, was ihm noch fehlt auf dem Weg zum Mann, was er vorher gemacht hat und warum ihm vielleicht ausgerechnet die Feuerwehr helfen könnte, ein Mann zu werden. Doch stattdessen versäumt es der Film, das Nicht-Mannsein des Knaben zu dokumentieren, um dann das Mannsein umso besser herausarbeiten zu k?nnen. Die Figur bleibt völlig im Vakuum hängen. Man weiß nicht, wo der Mensch herkommt, wo seine Defizite liegen, es fehlt der Ausgangspunkt um am Ende festzustellen, ob das Experiment, aus einem Jungen bei der Feuerwehr einen Mann zu machen, wirklich gelungen ist oder nicht. Dem Novizen werden nicht einmal die allerprimitivsten journalistischen Fragen gestellt, zum Beispiel, WARUM er eigentlich zur Feuerwehr will, wie er dazu kam und wie sich dieser Wunsch entwickelt hat.

Der Film zeigt erstaunlich wenig Interesse an seinem angeblichen Thema. Auch während der Novize bei seiner Arbeit und bei seinem Dienst bei der Feuerwehr gezeigt wird, erfährt man nichts über seinen persönlichen Hintergrund und vor allem, ob und welche Fortschritte er denn auf seinem Weg zur Mannwerdung macht.

 

Spektakuläre „Glücksauf-
nahme“der Naudets

 

Kurz und gut: der Feuerwehrnovize wirkt bloß wie ein Vorwand für einen Film, der letztlich ein ganz anderes Thema haben soll.

Umso interessanter verspricht der Einsatzort des Novizen zu werden. Von den 200 Feuerwachen in New York kommt der Neuling und spätere „Star“ eines Filmes über die Attentate vom 11. September kurze Zeit vor dem Attentat ausgerechnet zu einer dem World Trade Center am nächsten gelegenen: dem „Fire House“ in der Duane Street, nur sieben Blocks vom Welthandelszentrum entfernt. Dort beobachtet ihn die Kamera bei einem überaus unspektakulären Alltag, sonst erfährt man wiederum fast nichts über ihn. Der Höhepunkt ist eine Szene, bei der die Feuerwehrleute zusammen kochen. Die Trivialität des Materials bestätigt die Unverkäuflichkeit des Themas, jedenfalls in dieser Umsetzung.

Etwa eine Viertelstunde nach Beginn des Films kommt es jedoch zu einer denkwürdigen Szene. Ein älterer Feuerwehrmann erklärt dem Neuling das kleine Einmaleins eines Feuerwehrmanns:

„Es kann alles mögliche passieren – jederzeit. Du mußt wirklich auf das Schlimmste gefaßt sein. Wenn das Dach anfängt einzustürzen, mußt du sehen, daß du weg kommst, egal wie. Das ist kein Spaß, das ist ein Job. Es gibt eine Menge, was zu beachten ist. Du darfst dich nicht ablenken lassen, unbeirrt und zielgerichtet, nur so überlebst du, nur so kannst du anderen helfen.“

„Verstanden“, sagt der brave Feuerwehr-Novize.

In diesem Vortrag fällt auf, daß er seltsam belanglos klingt: „Es kann alles mögliche passieren, jederzeit. Du mußt auf das Schlimmste gefaßt sein. Wenn das Dach anfängt einzustürzen, mußt du sehen, das du wegkommst, egal wie. Das ist kein Spaß, das ist ein Job.“

Das sind Ratschläge, die fast alle zu jedem Job der Welt passen würden. Es fehlt vollkommen an fachlicher und zielgerichteter Information, an konkreten und wertvollen Hinweisen für die Arbeit des Feuerwehr-Novizen. Offensichtlich hat der ältere Feuerwehrmann dem Neuling nicht wirklich etwas zu sagen. Das Ganze erscheint gestellt. So ist denn auch der inhaltsleere Vortrag des älteren Feuerwehrmannes nicht das eigentlich Beeindruckende an der Szene. Das wirklich Besondere ist, daß der seltsam fade Vortrag direkt vor der eindrucksvollen Kulisse der hell erleuchteten Türme des World Trade Centers gehalten wird und daß der Feuerwehr-Veteran davon spricht, daß das Dach einstürzen könnte. Es ist, als läge in dieser Szene eine Prophezeiung.

Als Reportage über einen Neuling bei der Feuerwehr wird nicht wirklich klar, wohin der Film eigentlich will, was er einem zu sagen hat, und worauf er hinauslaufen soll. Mit anderen Worten hat man das Gefühl, es hier mit einem Pseudo- oder Als-Ob-Film zu tun zu haben – ganz so, als würde der Film auf sein richtiges und eigentliches Thema noch warten. In jedem Fall kann man feststellen, daß der Film für einen Film über einen neuen Feuerwehrmann außergewöhnlich schlecht ist. Das aber paßt gar nicht zu der Behauptung, daß die Filmemacher sich angeblich längere Zeit um das Thema bemüht hätten. Wer mit so viel Engagement zur Sache geht, sollte am Ende eigentlich etwas mehr zu sagen haben, als daß das gemeinsame Kochen und Essen Spaß gemacht hat – abgesehen vom Einsturz der Türme, versteht sich.

Über die Nacht vor dem 11.9. sagt einer der beiden Filmemacher: „Die ganze Nacht haben wir herumgealbert. Was wußten wir schon.“ Ja: Was wußten sie schon. Je näher man sich die Filmarbeit des Brüderpaares Naudet betrachtet, umso weniger läßt einen diese Frage los.

Am nächsten Morgen, dem 11. September, kommt gegen 8.30 der Einsatzbefehl zu jener Stelle, an der es nach Gas riechen soll. Dem Sender CBS verrät Jules, das vermeintliche Gasleck habe „an der Ecke Lispenard und Church Street“ gelegen, „ein paar Blocks von der Feuerwache entfernt“. Wie der Filmemacher behauptet, ging er nur zu diesem Einsatz mit, um noch etwas Erfahrung mit der Kamera zu sammeln.

Die Ecke Lispenard-/Church Street ist ein idealer Beobachtungsort für den Einschlag der ersten Maschine. In der Verlängerung der Church Street liegt der östliche Rand des Geländes des World Trade Centers. Die westliche Parallelstraße der Church Street, der Westbroadway, führt direkt auf die Türme zu. Der Westbroadway ist sozusagen die Einflugschneise der Maschine. Wenn man von der Church Street nach oben blickt, wird man sie seitlich von unten sehen. Wenn man die Church Street entlang nach Süden schaut, blickt man etwas seitlich versetzt auf die T?rme.

Vom Inneren der Feuerwache aus konnte man den Einschlag der Maschine natürlich schlecht aufnehmen. War die Sache mit dem ausgetretenen Gas also nur ein Vorwand, um an einen idealen Beobachtungsort zu gelangen und unter freiem Himmel filmen zu können? Diese Idee wäre natürlich sofort vom Tisch, wenn an der Ecke Lispenard-/Churchstreet tatsächlich Gas ausgetreten wäre. Doch von austretendem Gas können die Feuerwehrleute keine Spur entdecken, und ein paar Sekunden später ist das auch nicht mehr wichtig. Die Sache mit dem Gas, so heißt es, sei „falscher Alarm“ gewesen.

Kurz vor dem Herannahen der Maschine untersuchen die Feuerwehrleute an der Straßenecke eine Art Gitter oder Gulli mit einer Gassonde. Es fällt auf, daß bereits zu diesem Zeitpunkt Jules Naudet das World Trade Center im Hintergrund zeigt. Er filmt die Feuerwehrmänner im Vordergrund zunächst von der Bodenperspektive aus und läßt dann die Kamera eine Weile auf dem World Trade Center im Hintergrund stehen. Und dann wird es interessant: über der sich behäbig und irgendwie gelangweilt bewegenden Gruppe ertönt plötzlich ein lautes Flugzeuggeräusch. Und nun vollbringt der Filmemacher eine wahre Meisterleistung: „Zum ersten Mal zeigen die eher unerfahrenen Filmer die bewundernswerte Geistesgegenwart, die ihnen in den nächsten zwei Stunden ihre Bilder und auch ihr Leben rettet“, schreibt die „Welt“ (Die Welt online 12.3.2002, http://www.welt.de/daten/2002/03/12/0312mm319754.htx)

Dazu muß man sich klarmachen, daß man bei einem sich bewegenden Flugzeug zwischen dem Schallort und dem wahren Ort unterscheiden muß. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit des Flugzeugs und der Schallgeschwindigkeit liegen der Schallort und der wahre Ort in der Regel weit auseinander. Zusätzlich wird der Schall von den hohen Häusern reflektiert. Dadurch wird der akustische Sinn verwirrt und hat kaum noch eine Chance, den wahren Ort oder die wahre Flugrichtung des Flugzeugs auf Anhieb festzustellen. Jeder, der schon einmal versucht hat, mit Hilfe des Schalls ein Flugzeug am Himmel zu lokalisieren, wird bestätigen, daß man sich dabei in der Regel immer vertut. Die Feuerwehrleute an diesem Schauplatz reagieren deshalb auch völlig erwartungsgemäß und wenden den Blick senkrecht nach oben zum Schallort des Flugzeugs, der mit dem wahren Ort nicht identisch sein kann. Erstaunlicherweise reagiert der Kameramann Jules Naudet aber völlig anders. Er folgt keineswegs, wie es natürlich gewesen wäre, seiner akustischen Wahrnehmung und dem Blick der anderen senkrecht nach oben. Statt dessen schwenkt er die Kamera urplötzlich um cirka 90 Grad nach hinten Richtung World Trade Center.

Wer schon einmal mit einer Kamera gearbeitet hat, wird bestätigen, daß ein exakter Schwenk zu den schwierigsten Übungen des Filmemachens gehört. Häufig müssen Schwenks mehrmals wiederholt werden, damit sie von ihrem Ausgangspunkt am korrekten Endpunkt ankommen.

Die Einmaligkeit dieses Schwenks fiel auch dem deutschen Autor, Fotografen und Filmemacher Jo Conrad auf.
Der Filmemacher, sagt Conrad, „richtet die Kamera auf das World Trade Center, eine Sekunde, bevor das erste Flugzeug in den WTC-Turm fliegt. Zufall? Ich habe selber mehrere Videokameras und habe für den Offenen Kanal auch oft hinter der Kamera gestanden. Ich kann die Reaktion des Kameramannes nicht nachvollziehen. Filmt man eine Reportage über Feuerwehrleute (…) und hört ein Flugzeug (…) warum richtet man dann seine Kamera, wenn man schon davon irritiert ist, nicht auf den Himmel, sondern auf eines von vielen Gebäuden in N.Y.?
Ich habe mir die Aufnahmen mehrmals angesehen und verstehe es nicht. Ich versetze mich in die Lage des Filmers und halte es für ÄUSSERST unwahrscheinlich, daß ich mich bei einem normalen Dreh (ob hobbymäßig oder beruflich) so verhalten würde.

Es mutet schon etwas seltsam an, daß dieser Coup ausgerechnet dem weniger Geübten der beiden Kameramänner gelingt. Wie heißt es doch im Kommentar des Films: Eigentlich wollte Jules nur Erfahrung mit der Kamera sammeln, denn bisher hatte überwiegend Gedéon gefilmt.“ (Regentreff-Forum, Stellungnahme vonn Jo Conrad, 17. September 2001 21:08:47, http://www.f25.parsimony.net/forum63351/messages/1523.htm)

Jules Naudet beschreibt seine Reaktion wie folgt: „Wir waren auf der Straße, und ich sah die Feuerwehrleute, die haben einfach mal die Gasleitung geprüft, das war eine Routinesache, und plötzlich hören wir dieses Getöse, und jeder hat natürlich zunächst mal nach oben geschaut, und ich erinnere mich daran, ich habe nach oben geschaut, habe zwar die Kamera auf die Feuerwehrleute gehalten, sehe aber dieses Flugzeug sehr klar.“

„Einfach mal die Gasleitung geprüft“? Einfach so? Bisher war davon die Rede, daß es einen Alarm gegeben habe.

Naudet hat also ebenfalls nach oben geschaut, die Kamera aber waagerecht gehalten. Wie man an einer anderen Stelle des Films sieht, arbeitete er mit einer Kamera mit ausklappbarem Monitor. Jules Naudet weiter: „Ich konnte sogar den Namen American Airlines lesen, und instinktmäßig habe ich dann die Kamera draufgehalten, und da sah man dann, daß es ins World Trade Center hineinknallte, und die Zeit schien stillzustehen, und ich habe mich gefragt, habe ich das geträumt, oder habe ich es wirklich gesehen, und dann kam ein paar Sekunden später das Geräusch der Explosion, und damit war man wieder in der Realität, und die Feuerwehrleute sind dann sofort ins Löschfahrzeug gesprungen und sind zum Trade Center gefahren.“ (in: „Gabi Bauer“,ARD, 11.9.02, 20.15)

Jules Naudet folgt dem natürlichen Impuls, die Kamera auf das Flugzeuggeräusch zu richten, nicht. Stattdessen zieht er die Kamera geradewegs auf das World Trade Center. Nach dem Einschlag sind er und die Feuerwehrleute der Wache Duane Street „sofort ins Löschfahrzeug gesprungen“ und zum Trade Center gefahren.

Jules Naudet sagt, er dachte sofort: „Was für ein schlimmer Unfall. Das war die direkte Reaktion, ich glaube, jeder hat gedacht, das ist völlig unmöglich, daß das etwas anderes ist als ein Unfall, daß das bewußt gemacht worden ist. Seltsamerweise war es so, als ich dann nachher die Bilder angeschaut habe, die ich gefilmt habe, als ich mir die ein paar Wochen später angeschaut habe, war es so, daß Chief Pfeiffer, er war ja der Einsatzleiter, und als wir zum Trade Center fuhren, da hat er sich zum Fahrer umgedreht und hat gesagt, das war ein Angriff, das war eine Attacke. Und die meisten von uns, die haben ja nur das Flugzeug gesehen, wie es da reinknallte. Aber in den paar Sekunden hat er darüber nachgedacht, da kommt kein Rauch aus dem Flugzeug, das Flugzeug wackelt nicht, das fliegt direkt auf das World Trade Center zu und hat sofort den Turm getroffen, also für ihn war das sofort ein Angriff, das war sofort eine Attacke.“ (ARD, ebenda)

Nach dem Einschlag des Flugzeugs in den ersten Turm ist plötzlich etwas los in dem bis dahin irgendwie sinnlosen Film. Der Filmemacher führt mit den Feuerwehrleuten zum World Trade Center, während sich sein Bruder von der Feuerwache aus zu Fuß auf den Weg zu dem brennenden Turm macht. Er schwenkt seine Kamera zwischen dem brennenden Gebäude und den Menschen auf der Straße hin und her. Immer wieder richtet er den Sucher auf den brennenden Turm und dann auf die Passanten auf der Straße – und filmt dabei den Einschlag der zweiten Maschine in den Südturm des World Trade Centers.

Sein Bruder Jules ist schon lange im ersten Turm angekommen. Und nun passiert etwas Seltsames. Dutzende von Feuerwehrleuten werden in das Treppenhaus geschickt, um zur Brandstelle im 78. Stock hochzusteigen. Im Treppenhaus und an der Brandstelle warten mit Sicherheit DIE Bilder für seinen Feuerwehrfilm, aber Jules Naudet macht keinerlei Anstalten, den Feuerwehrmännern zu folgen. Weder insistiert er bei dem Einsatzleiter, Chief Pfeiffer, ihn doch endlich nach oben zu lassen, noch schließt er sich den Feuerwehrleuten auf eigene Faust an. Er interessiert sich auch nicht die Bohne für seinen Feuerwehrnovizen, der schließlich überhaupt der Anlaß für seinen Film gewesen sein soll. Ist das etwa nicht die Gelegenheit, ihm beim Mannwerden zu beobachten? Also müßte er ihn jetzt, wo auch immer, aufsuchen und ihn irgendwie in das Geschehen integrieren. Denn schließlich ist das der spektakuläre Notfall, von dem ein Filmemacher in dieser Situation nur träumen kann. Und noch ist es nicht die Jahrhundertkatastrophe, die einen alles vergessen lassen würde. Noch sieht ja alles nach einem Unfall aus. Statt seinen Novizen in das Geschehen zu integrieren, gibt sich Jules Naudet aber mit endlosen Bildern von beratschlagenden Feuerwehrleuten im Erdgeschoß zufrieden. Das rettet ihm zwar das Leben, auf der anderen Seite ist dies ein äußerst merkwürdiges Reporterverhalten.

Das fällt auch Gabi Bauer auf, die die Brüder ein Jahr später für die ARD interviewt. Sie fragt: „Sie sind aber immer in der Lobby geblieben, unten. Die Rettungskräfte wurden hochgeschickt während der ganzen Zeit… Haben Sie da den Impuls mal gespürt, als Dokumentarfilmer, der dabei sein will, sogar mal mit hochzugehen?“ („Gabi Bauer“, ARD, ebenda)

Eine gute Frage. Jules Naudet, der den ersten Einschlag filmte und als erster der beiden Brüder an den Türmen eintraf, gerät daraufhin ins Stammeln:

„Nun, ich war überzeugt, daß Gedéon schon hochgefahren sei, denn als ich die Feuerwache verlassen habe, um zu diesem Routineeinsatz zu gehen, mit dem Gasleck, da war ich überzeugt, daß Gedéon mitgefahren war und daß er da war. Und als das Flugzeug dann ins Trade Center hineinflog, da war ich überzeugt, daß er da war (…) Er war oben, habe ich gedacht, und deshalb bin ich unten in der Eingangshalle geblieben, und ich war sicher, daß er tot war.“ („Gabi Bauer“, ARD, ebenda)

Wie bitte?

1. Es gibt einen Gasalarm, woraufhin Jules mit dem Feuerwehrwagen in Richtung Lispenard/Churchstreet davon braust und seinen Bruder auf der Wache zurückläßt.
2. An der Ecke Lispenard/Church angekommen, beobachtet er den Einschlag der ersten Maschine in das World Trade Center und rast mit seinem Feuerwehrteam sofort zum Brennpunkt des Geschehens.
3. Und trotzdem nimmt er an, sein Bruder sei nicht nur vor ihm dort angekommen, sondern bereits den Turm hinaufgestiegen und ums Leben gekommen? Und zwar ALS das Flugzeug in das WTC einschlug??

Das versteht kein Mensch – wie konnte Jules überzeugt sein, daß Gedéon mit ihm „mitgefahren“ war, obwohl er zu dem „Routineeinsatz“ an dem vermeintlichen Gasleck doch gar nicht mitgenommen wurde? Er hatte ja auch ausdrücklich betont, ER sei zu dem Einsatz mitgefahren, um mit der Kamera zu üben, was bedeutet, daß sein Bruder NICHT mitgefahren ist. Und wieso sollte sein Bruder durch den Flugzeugeinschlag getötet worden sein, wenn dieser erst der Anlaß für den Feuerwehreinsatz war? Und warum stellte er, einmal im Nordturm angekommen, nicht sofort Nachforschungen an und veranlaßte Rettungsversuche, anstatt seelenruhig in der Lobby zu bleiben und die Kamera auf palavernde Feuerwehrleute zu halten?

Und selbst wenn Gedéon mit ihm mitgefahren wäre, hätte er allenfalls gleichzeitig mit Jules im Turm sein können, nicht aber vorher, um hinaufzuklettern, zu filmen und zu sterben. In Wirklichkeit war Gedéon jedoch auf der Wache geblieben, während das Feuerwehrteam seines Bruders Jules vor allen anderen Einheiten der New Yorker Feuerwehr einen uneinholbaren Vorsprung hatte und als erstes am getroffenen Turm eintraf. Wie konnte Jules da annehmen, sein Bruder sei bereits da und den Turm hinaufgeklettert? Ganz davon abgesehen, wäre das kein Grund, dieses gewaltige und historische Ereignis, das es auch als „schlichter“ Unfall gewesen wäre, nicht mit möglichst vielen Kameras festzuhalten, statt endlos diskutierende Feuerwehrleute zu filmen.

Wie gesagt, wollte Jules mit seiner Äußerung Gabi Bauers Frage beantworten, WARUM er denn nicht in den Turm hinaufgestiegen sei. Die Antwort ist aber keine Antwort. Es muß also noch eine andere geben. Wußte er, daß der Turm einstürzen würde?

„Alle Hochhäuser in New York City stehen unter 5. Alarm, d.h. bei einer Feuermeldung von dort werden 20 engines, 10 ladders, zwei rescues, eine squad unit sowie bestimmte Sonderfahrzeuge alarmiert“, schreibt der Feuerwehrexperte Manfred Gihl, ein intimer Kenner der New Yorker Feuerwehr, in der deutschen Feuerwehrzeitung „Brandschutz“. „Zum Einsatz im WTC wurde demzufolge für jeden der beiden Tower 5. Alarm ausgelöst. Das bedeutete, dass in kurzer Zeit mindestens 235 Feuerwehrkräfte am WTC eingetroffen waren.“ (http://www.brandschutz-zeitschrift.de/news/FDNY1.htm) So etwas nennt man in der Feuerwehrsprache den „ersten Abmarsch“. Und die Art und Weise, wie sich die beiden Türme als Todesfalle erwiesen, legt nahe, daß keiner aus diesem ersten Abmarsch überlebte. Tatsächlich kamen weit über 300 Feuerwehrleute ums Leben – rästelhafterweise niemand aus der Feuerwache Duane Street, die nicht nur äußerst nahe am WTC liegt, sondern deren Leute auch als erste am brennenden Turm eintrafen – im Gepäck den Filmemacher Naudet, der partout nicht auf die Idee kam, in den Turm hinaufzusteigen, um dort spektakuläre Bilder zu bekommen. Und obwohl er angeblich davon ausging, sein Bruder könnte sich dort oben in Not befinden. Beide erlitten jedoch nicht den kleinsten Kratzer, denn in Wirklichkeit machte sich sein Bruder, während Jules stoisch parlierende Feuerwehrleute in der Lobby des brennenden Turmes filmte, erst zu Fuß auf den Weg zum World Trade Center.

?Die Feuerwehrleute nennen die Feuerwache Duane Street die „Wunderwache“, weil, obwohl sie eine der ersten Mannschaften am Ort waren, niemand von ihnen ums Leben kam“, schildert einige Wochen nach der Katastrophe eine Angehörige der Prescott Valley Firefighters die Stimmung bei ihren New Yorker Kollegen: „Für Feuerwehrleute, die so viele Kollegen verloren, beinhaltet das auch ein gewisses Maß an Emotion.“ (Prescott Valley Tribune, http://www.prescottaz.com/pvweb/story4.htm)

Das mag man gern glauben.

Weitere Links:

http://www.ndrtv.de/doku/20030911_11_september.html

http://www.physics911.ca/9/11_Naudet_video