Giftgas-Anschlag: Kam der Kampfstoff aus Großbritannien?

Wer verübte am 4. März 2018 im englischen Salisbury einen Giftgasanschlag auf den ehemaligen russisch-britischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter?  Die Russen, wie die britische Regierung behauptet?  Oder vielleicht die Briten selber?

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Jeder macht die Propaganda, die er am nötigsten hat. Und die Beschuldigung, Russland habe am 4. März 2018 auf den Ex-Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter einen Mordanschlag verübt, scheint Großbritannien dringend nötig zu haben. Mit einer enormen Lautstärke, die in einem krassen Gegensatz zur Beweislage steht, beschuldigt die britische Premierministerin Theresa May Russland, Skripal und seine Tochter im britischen Salisbury mit dem Nervengas Nowitschok vergiftet zu haben. Das einzige Indiz dafür ist überhaupt keines. Zwar wurde Nowitschok tatsächlich in der früheren Sowjetunion entwickelt, allerdings ist das nun schon einige Jährchen her. Inzwischen kann sich der Kampfstoff über die ganze Welt verbreitet haben (siehe unten).

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Beweise: Fehlanzeige

Irgendwelche Beweise für Mays Behauptungen existieren schon gar nicht:

  • Wie und auf welchen Wegen die Substanz in die beiden Opfer gelangt sein soll – Fehlanzeige.
  • Wer den Mordauftrag gegeben haben soll und warum – weiß man nicht.
  • Tatverdächtige? Gibt es nicht.

Aber das kann doch nicht sein! Für den Entwickler des Giftgases selbst steht doch „außer Frage, wer hinter dem Anschlag auf Skripal steckt“, zitierte Spiegel Online den aus Russland in die USA ausgewanderten Chemiker Wil Mirsajanow, der eine leitende Funktion in dem sowjetischen Chemiewaffenprogramm inne hatte. In einem Spiegel-Video sagte Mirsajanow: „Natürlich streitet der Kreml alles ab, wie alle Kriminellen. Auch nur einem Wort von Putin zu trauen, ist ein Fehler. Nowitschok wurde erfunden, untersucht und Tonnen davon hergestellt – ausschließlich in Russland. Niemand außerhalb des Landes wusste davon. Niemand sonst besaß diese Chemikalie“, sagte der 83-Jährige da.

Gewöhnliche Zutaten

Soso – vielleicht bis auf Usbekistan zum Beispiel. Wie Mirsajanow selbst in seinem Buch Staatsgeheimnisse – Eine Insider-Chronik des russischen Chemiewaffenprogramms (State Secrets – An Insider‘s Chronicle Of The Russian Chemical Weapons Program, Denver 2008) schreibt, wurden die Kampfstoffe auch dort getestet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion halfen die USA dem ehemaligen Sowjetstaat Usbekistan beim Abbau der Anlagen – wobei ihnen natürlich auch die Giftgase in die Hände fielen. Heute kann jedes Land, das über eine nennenswerte Agrarindustrie verfügt, über die Chemiewaffen verfügen. Denn bekanntlich handelt es sich bei den Nowitschok-Gasen ja um sogenannte „binäre Kampfstoffe“ aus zwei („bi“) weniger gefährlichen Zutaten, die sich erst beim Einsatz mischen und ihre tödliche Wirkung entfalten (zum Beispiel in einer Zweikammer-Granate). Mirsajanow selbst schrieb 1995 in einem Artikel: Man sollte bedenken, dass es sich bei den chemischen Komponenten oder Vorläufern der Nowitschok-Gase „um gewöhnliche Organophosphate handelt, wie sie in kommerziellen Chemieunternehmen fabriziert werden können, die Produkte wie Düngemittel und Pestizide herstellen“ (Henry L. Stimson Center: Chemical Weapons Disarmament in Russia: Problems and Prospects, No. 17, Oktober 1995, S. 24). Mit anderen Worten lagern die Zutaten für Nowitschok-Kampfstoffe in jeder besseren Agrarchemiefabrik.

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Es gibt aber noch eine weiteren Ursprung für die Chemiewaffen. Wer sich nämlich einmal mit den Originalaussagen Mirsajanows beschäftigt, stellt fest, dass er neben den Russen eben doch noch einen weiteren möglichen Ausgangspunkt für die Nowitschok-Gase nannte: Die einzige andere mögliche Quelle, sagte der Chemiker laut einem AFP-Bericht vom 14. März 2018, „wäre, dass jemand die Formeln in seinem Buch benutzte, um eine solche Waffe herzustellen.“

Nowitschok-Formel in Mirsajanow-Buch von 2008

 

Know How über Nowitschok

Sieh an! Das ist natürlich dumm. Spätestens seit 2008 konnte also jedes Chemiewaffenlabor auf dem Planeten die Nowitschoks herstellen. Aber warum denn in die Ferne schweifen? Das Know How und die Skrupellosigkeit, Menschen mit Giftgasen zu attackieren, befindet sich doch gleich um die Ecke. In Porton Down zum Beispiel befindet sich das Zentrum der britischen Bio- und Chemiewaffenforschung – nur zwölf Kilometer von dem beschaulichen Städtchen Salisbury entfernt, wo Skripal und seine Tochter vergiftet wurden.

Laut dem britischen Karrierediplomaten und früheren US-Botschafter in Usbekistan, Craig Murray, verfügt die britische Regierung dort selbst über jede Menge Know How in Sachen Nowitschok. Dort seien die Nowitschok-Gase „mit ziemlicher Sicherheit“ analysiert und reproduziert worden: „Genau dafür ist Porton Down da. Es machte chemische und biologische Stoffe zu Waffen, und heute werden sie immer noch in kleinen Mengen hergestellt, um Abwehrmechanismen und Gegenmittel zu erforschen. Nach dem Fall der Sowjetunion machten russische Chemiker viele Informationen über diese Nervenkampfstoffe verfügbar.“ Und ob – siehe Mirsajanow.

Nur zwölf Kilometer von dem beschaulichen Salisbury entfernt liegt…

Menschen- und erst recht Tierleben galten in Porton Down wenig. Im Laufe der Jahre wurden dort Millionen von Tieren und Tausende von Menschen vergiftet. Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren seien „in über 20.000 Fällen chemische Kampfstoffe an meist ahnungslosen eigenen Soldaten erprobt worden, darunter viele Wehrpflichtige. Viele von ihnen glaubten, an der Entwicklung eines neuen Medikaments gegen Schnupfen mitzuwirken“ (Wikipedia: Porton Down, abgerufen am 19.3.2018). In mindestens 3400 Fällen seien Nervenkampfstoffe, Senfgas, LSD sowie das Tränengas CS auf Menschen losgelassen worden: Im Mai 1953 sei ein 20-jähriger Angehöriger der Royal Air Force (RAF) gestorben, „nachdem ihm Sarin auf den Unterarm getropft worden war. Trotzdem wurden die Versuche mit Nervenkampfstoffen noch mindestens bis 1958 fortgesetzt. An den Spätfolgen der Versuche in Porton Down sollen bis heute etwa 25 Menschen gestorben sein.“

Mehr als 750 geheime Operationen mit Kampfstoffen

Aber die Dunkelziffer ist hoch: Mehr als 750 geheime Operationen, die „biologische und chemische Kriegsangriffe von Flugzeugen, Schiffen und Straßenfahrzeugen“ beinhalteten, seien an „Hunderttausenden von gewöhnlichen Briten“ durchgeführt worden, berichtete der britische Journalist Nafeez Ahmed. Weil es so praktisch ist, wurden viele der Versuche gleich rund um Salisbury veranstaltet, auch an der Zivilbevölkerung. Dabei hätten britische Militärflugzeuge „Tausende von Kilogramm einer Chemikalie mit ‚weitgehend unbekanntem toxischem Potenzial‘ über der britischen Zivilbevölkerung in und um Salisbury in Wiltshire, Cardington in Bedfordshire und Norwich in Norfolk“ abgeworfen, schrieb der britische Independent am 8. Juli 2015: „Erhebliche Mengen wurden auch über Teilen des Ärmelkanals und der Nordsee ausgebracht. Es ist nicht bekannt, in welchem Ausmaß Küstenstädte in England und Frankreich betroffen waren.“ Selbst Pendler in der Londoner U-Bahn seien „in wesentlich größerem Maßstab“, als bisher angenommen, als Versuchskaninchen eingesetzt worden. Neue Forschungen hätten ergeben, „dass im Mai 1964 im Rohrsystem der Hauptstadt ein bis dato unbekannter Feldversuch für biologische Kriegsführung veranstaltet wurde. Die geheime Operation – durchgeführt von Wissenschaftlern des Forschungszentrums für chemische und biologische Kriegsführung in Porton Down, Wiltshire – umfasste die Freisetzung von großen Mengen von Bakterien namens Bacillus globigii … “

…Porton Down, einer der grauenhaftesten Chemiewaffenkomplexe des Planeten/Von Peter Facey

Sieh da – wie es scheint, finden sich in Großbritannien, und speziell in Porton Down, genau die Verbrecher, die Theresa May so lautstark in Russland sucht….

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