Dürfen Journalisten auf die Wahrheit pfeifen?

Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Bisher war das immer so: „Die Achtung vor der Wahrheit, die  Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse… Zur Veröffentlichung bestimmte Nachrichten und Informationen in Wort und Bild sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Dokumente müssen sinngetreu wiedergegeben werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.“ So steht es im deutschen Pressekodex (Ziffer 1 und 2).

Nun aber soll das plötzlich nicht mehr gelten – jedenfalls, wenn es nach zwei Mitgliedern des Beschwerdeausschusses beim Deutschen Pressserat geht. Ach was – Mitglieder: Der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des
Beschwerdeausschusses wollen nun das Verhältnis des Journalisten zur Wahrheit ein wenig korrigieren. Fortan soll sich dieses wie folgt gestalten:

„Im Gesamtkontext können Journalisten […] nicht verpflichtet werden, ein sehr wahrscheinliches Geschehen in der Berichterstattung als Verdacht zu formulieren. Dies würde bedeuten, dass künftig nur noch definitiv festgestellte Wahrheiten als unbestritten und damit Fakt dargestellt werden könnten. Eine solche Forderung wäre abwegig und würde die journalistischen Möglichkeiten sprengen.“

Nochmal langsam zum Mitschreiben: „Im Gesamtkontext können Journalisten […] nicht verpflichtet werden, ein sehr wahrscheinliches Geschehen in der Berichterstattung als Verdacht zu formulieren.“

Das heißt: sie dürfen bereits ein bloß „sehr wahrscheinliches Geschehen“ als wahr darstellen.

Alles andere würde bedeuten, daß nur noch Fakten („definitiv festgestellte Wahrheiten“) als Fakten dargestellt werden  könnten.

Unerhört eigentlich. So etwas wäre natürlich „völlig abwegig“.

Das heißt:

– Journalisten dürfen in Zukunft bereits Wahrscheinlichkeiten
als Fakten („Tatsachenbehauptungen“) verkaufen

– und was „sehr wahrscheinlich“ ist, ist natürlich nicht
definiert.

Ein echter Fortschritt, finden Sie nicht auch?

Daß dies kompletter Blödsinn ist, leuchtet jedem sofort ein. Zum Beispiel, wenn man an den Bereich der Persönlichkeitsrechte denkt. Wer Tatsachenbehauptungen aufstellt, muß diese auch beweisen können, sonst darf er sie nicht als Tatsachenbehauptungen formulieren – so einfach ist das.

Was hat den Presserat zu dieser umwerfenden Neubestimmung des      journalistischen Wahrheitsgebotes veranlaßt? Auslöser waren Beschwerden gegen mehrere Veröffentlichungen über das so genannte Srebrenica-Video, das Anfang Juni 2005 im Rahmen des Prozesses gegen den ehem. Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien, Slobodan Milosevic, gezeigt wurde und das dann rund um die Welt ging – mit dem Ziel, einen nachträglichen Beweis für das so genannte Massaker von Srebrenica zu liefern und Milosevic die Verantwortung für dieses Massaker anzulasten.

Die Sache hat nur einen Haken: In den Veröffentlichungen, die  wir exemplarisch herausgegriffen haben (‚taz‘, ‚F.A.Z.‘, ‚Welt‘ und ‚dpa‘), gibt es eine Vielzahl falscher oder zumindest nicht erwiesener Darstellungen, die aber als     Tatsachenbehauptungen aufgestellt werden. Daß die Darstellungen nicht (alle) zutreffen können, ergibt sich schon daraus, daß sie sich widersprechen. Es kann z.B. nicht zutreffen, daß der angebliche Mord im Gebiet von Srebrenica und gleichzeitig in mehr als 100 Kilometern Entfernung stattgefunden hat. Es ist nicht möglich, daß der angebliche Mord in den Tagen des so genannten Massakers von Srebrenica Mitte Juli 1995 und auch vier Monate später stattgefunden hat.

Vielfach haben wir Natasa Kandic, Leiterin des Belgrader    Menschenrechtsfonds, der in den Medien oft als Quelle für das so genannte Srebrenica-Video angegeben wird, angeschrieben und konkrete Fragen, insbesondere nach der Herkunft des Videomaterials, nach Ort und Zeit des Geschehens, gestellt.

Der Menschenrechtsfond – übrigens eine NGO, die seit 1994 eng mit dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag zusammenarbeitet – hat zwar mehrfach reagiert, aber nie die Fragen beantwortet. Es muß also offen bleiben,  was das, was auf dem Video zu sehen ist, wirklich darstellt und wie dieser Vorgang einzuschätzen ist. Es stellt sich die Frage, mit welcher ‚Sorgfalt‘ die betreffenden Medien Quelle und Wahrheitsgehalt überprüft haben. Der Presserat aber urteilt: „Nach unserer Auffassung haben die Zeitungen bzw. die Nachrichtenagentur den zum Zeitpunkt der Berichterstattung aktuellen Erkenntnisstand zu dem Vorgang wiedergegeben.“

Der Presserat: „Unbestritten ist {…], dass das Massaker in und um Srebrenica stattgefunden hat.“ Und weiter: „Die Wahrscheinlichkeit, dass das Video ein Geschehen um Srebrenica zeigt, ist sehr hoch und die von den Zeitungen und der Nachrichtenagentur gewählte Darstellung daher gerechtfertigt.“ Das schreibt der Presserat – man kann es kaum glauben – obwohl in einer Vielzahl von Veröffentlichungen ein Ort genannt wird, der mehr als 100 Kilometer von Srebrenica entfernt südlich von Sarajevo liegt.

Der Presserat: „Auch wenn offenbar nicht festgestellt werden kann, wann der Vorgang genau geschehen ist, so erscheint es uns doch wahrscheinlich, dass er so wie dargestellt stattgefunden hat.“ Und: „Es erscheint uns unbestritten, dass das Video Szenen zeigt, die im Umfeld von Srebrenica geschehen sind. Dabei ist es unerheblich, zu welchem genauen Zeitpunkt das Geschehen stattgefunden hat. Ob nun direkt nach der Einnahme von Srebrenica oder einige Zeit später, ist     zweitrangig.“ ‚Einige Zeit später‘: das sind vier Monate. Man muß an der Denkfähigkeit des Presserats zweifeln. Niemand hat bisher behauptet, daß sich das so genannte Massaker von Srebrenica über einen Zeitraum von vier Monaten erstreckt hat.

Der Presserat versteigt sich dann abschließend zu dem Urteil:

„Insgesamt konnten wir eine Verletzung publizistischer Grundsätze daher nicht feststellen. Ihre Beschwerden waren somit unbegründet.“

Auf die Mehrzahl von Vorwürfen gegen die Veröffentlichungen von ‚taz‘, ‚F.A.Z.‘, ‚Welt‘ und ‚dpa‘ geht der Presserat mit keinem Wort ein und befindet damit implizit:

Es darf behauptet werden, was definitiv falsch ist. So darf unterstellt werden, es seien sechs hingerichtete Personen zu sehen, auch dann, wenn dies erwiesenermaßen nicht zutrifft – und zwar deshalb nicht, weil auf einem Bild der am Boden Liegenden eindeutig zu sehen ist, wie sich die Körper bewegen, keinerlei Blut von Einschüssen zu erkennen ist und eine Szene folgt, die zeigt, wie die Gefangenen abgeführt werden, also noch am Leben sind.

Es dürfen sensationslüsterne Falschdarstellungen verbreitet werden. So darf von ‚Bergen von Leichen‘ geschrieben werden (Erich Rathfelder in der ‚taz‘: „…Zivilisten werden aus einem Lkw geschubst, müssen über eine Wiese kriechen, ein Serbe tritt mit dem Stiefel einem Opfer gegen den Kopf, Berge von Leichen.“), auch dann, wenn diese nur in der Phantasie des Schreibenden existieren, es tatsächlich um maximal sechs Personen geht, die – wenn es sich nicht um eine gespielte Szene handelt – möglicherweise umgebracht worden sind.

Entgegen aller rechtsstaatlicher Prinzipien dürfen Vorverurteilungen ausgesprochen werden, auch dann, wenn es nur vage Verdächtigungen gibt. So dürfen Personen des Mordes und des Abschlachtens von Menschen auch dann bezichtigt werden, wenn es dafür keinerlei Beweise gibt, geschweige denn ein
unabhängiges Gericht darüber geurteilt hat.

Es ist verheerend. Der Deutsche Presserat legitimiert damit jegliche Desinformation und erteilt einen Freibrief für propagandistische Kriegshetze.