Atomkrieg und andere böse Überraschungen

Von Werner Schlegel

Der 10. April könnte als Tag der nichtüberraschenden Überraschungsmeldungen in die Bearbeiten Datum und Uhrzeit ändernMediengeschichte eingehen. Fangen wir mit Matthias Platzecks Rücktritt vom SPD-Vorsitz an, der einige überrascht haben soll. Mich keineswegs. Und nicht etwa, weil mich bei dieser blassrosa angestrichenen Sturmtruppe des Neoliberalismus ohnehin nichts mehr verblüffen kann. Es gab vielmehr genügend Leute in der Partei, die schon lange vor Platzecks zweitem Hörsturz von seiner bevorstehenden Ablösung wussten. Sonst hätte ich das nicht eine Woche vor dessen Krankenhauseinlieferung von einem SPD-Mitglied erfahren, das Kontakte zur Fraktionsspitze hat.  „Platzeck soll weg und Beck der Nachfolger werden“, lautete die Nachricht. Der Grund wurde gleich mitgeliefert: „Münte will Beck, weil der voll auf seiner neoliberalen Linie liegt“. Ach so. Dann dürfen wir sicher jetzt schon raten, welchen Aufsichtsratsposten der Sauerländer nach einem vorzeitigen Ende der Großen Koalition einnehmen wird. Bei RAG und RWE, den führenden Ent- und Versorgungsanstalten für Politiker des Ruhrgebietes, sind sicher noch ein paar warme Plätzchen frei. Mit seinem zum neoliberalen Klassiker avancierten Zitat „Zur Wirtschaft gehört Demokratie mit bei“,  hat sich das schwarzrosa Fränzchen bereits ausreichend dafür qualifiziert.

Die zweite Meldung kam aus Frankreich: Nach wochenlangen Protesten eines Großteils der Bevölkerung – hierzulande gerne verharmlosend als „Schüler- und Studentenproteste“ bezeichnet – ist das neue Arbeitsmarktreformgesetz gescheitert. Das konnte eigentlich nur eine bestimmte Sorte des deutschen Michel – also die Mehrheit – überraschen: Alle, die immer noch glauben, die neoliberale Reformpolitik sei sakrosankt und mit Stillhalten, Wahlverweigerung, Faust-in-der- Tasche-Ballen und dem unsolidarischen Motto „Jeder für sich und Gott gegen alle“ ließe sich die Herrschaftselite irgendwie beeindrucken. April, April – und guten Weiterschlaf. Wirklich überrascht wurden hingegen die meisten in diesem Lande gestern und heute von ihren Mainstreammedien. Lasen, sahen und hörten sie doch Knall auf Fall, dass die völkerrechtswidrigen und kriegsverbrecherischen Angriffspläne der US-Regierung gegenüber dem Iran nicht nur weit fortgeschritten sind, sondern auch den Einsatz taktischer Atomwaffen (sogenannter „Mininukes“ oder Gefechtsfeld-A-Waffen“) einschließen. Um die Dimension zu verdeutlichen, die hinter den verharmlosenden militärischen Sprachschöpfungen steckt: Die kleinste dieser Waffen verfügt über die fünffache Sprengkraft der Hiroshimabombe.
Nicht überrascht von dieser Meldung wurden die Leser dieser Website. Hier wurde schon seit Monaten wiederholt über die US-Pläne geschrieben. Zuletzt am vergangenen Freitag. Mit dem Hinweis auf die seit Wochen anhaltende Taktik von Zerrspiegel-Online, seine Leser scheibchenweise auf einen solchen Angriff vorzubereiten. Auch diese dürften also vom Inhalt der auf Seymour Hersh zurückgehenden Meldung nicht allzu sehr überrascht gewesen sein. Schon eher von ihrer kaum zu überbietenden Deutlichkeit.

Offensichtlich gab es aber noch eine ganze Menge Nichtüberraschter: Die Redakteure und Moderatoren in den Mainstreammedien. Die meisten von ihnen taten nämlich so, als sei eine Angriffsplanung mit Atomwaffen das Natürlichste der Welt. So erklärte der Brainwashington-Korrespondent des Deutschlandfunks, Dirk Buschschlüter, in den „Informationen am Mittag“:  Der Chef der als Regierung getarnten Gang im Brutal Office habe doch schon vor Wochen laut und deutlich erklärt, dass die iranische Regierung „den Weltfrieden gefährde“ und „man Israel auf jeden Fall schützen werde“. Respekt, Herr „Kollege“. Georg Orwell wäre begeistert von ihrem Auftritt gewesen. Jetzt gefährdet bereits die iranische Regierung – und nicht mehr nur ihr angebliches Atomwaffenprogramm – den Weltfrieden. Und irgendwie ist mir sicher auch entgangen, dass Iran Israel mit einem Angriff gedroht hat? Mir scheint, Buschschlüters Geographiekenntnisse sind nicht die besten. Jenes Land, das den ohnehin ziemlich durchschusszernarbten Weltfriedensschild bedroht, liegt in einer ganz anderen Region der blauen Kugel. Oder um es mit den Worten eines Alt-Bundespräsidenten zu sagen: „Wer mit dem Zeigefinger auf andere weist, sollte daran denken, dass dabei stets drei Finger auf ihn selbst zeigen“. (Für alle, denen die deutsche Politikgeschichte nicht mehr ganz geläufig ist: Das Zitat stammt von Gustav Heinemann, dem meines Erachtens letzten echten Bundespräsidenten, vor Installation der Endlosschleife präsidialer Abziehbilder).

Kurz und schlecht: Überrascht wurde an diesem 10. April eigentlich nur, wer nach den Meldungen einen Sturm der Entrüstung im bundesdeutschen Medienwald erwartet hätte. Der blieb aus, sieht man einmal von den „üblichen Verdächtigen“ wie Junge Welt oder Linkszeitung ab. Stattdessen weinte die WILD-Zeitung über unser derzeit offenbar größtes Problem, den Sturz des deutschen Fußball Dschingis Kahn. Ein Ruhrgebietsblatt sah in den Angriffsplänen gar den Anlass zu einer besonders „humorvollen“ Karikatur: Ein Faxgerät in einem Atomlabor spuckt ein Blatt mit Bushkonterfei und der Überschrift „Bush plant Atomschlag gegen Iran“ aus. Worauf der iranische Präsident zu zwei turban- und schutzhelmbewehrten Laborangestellten sagt: „Beeilung Leute, wir kriegen Besuch“. Was haben wir gelacht.

Lassen wir alle Hinweise auf moralische Verkommenheit, kriecherische Feigheit und was einem sonst noch alles an adäquaten Etikettierungen einfallen mag, ob dieser Medienhaltung, einmal beiseite. Seien wir nur von einem überrascht: Welch  abgrundtiefer Masochismus hat sich eigentlich in einem Volk herausgebildet, das eine derartige Meldung in seinen Massenmedien mit stummer Ergebenheit hinnimmt? Das war denn selbst für mich eine Überraschung. Ich hoffe aber noch immer, dass mich die Ostermärsche (einst eine machtvolle Demonstration aller Friedensbewegten im Lande) eines Besseren belehren werden. Es ist schon schlimm genug, einem Volk der Dichter und Henker anzugehören. Volksmasochismus aber sollte dort ausgelebt werden, wo er hingehört: Bei der nächsten erreichbaren Domina. Oder wurde da schon wieder etwas verwechselt – bei der Wahl von Frau Merkel?